Warum Führung sich auch den unbequemen Wahrheiten stellen muss

Auch heute möchte ich wieder einen Einblick in meinen Arbeitsalltag geben – nicht zur Unterhaltung, sondern damit Sie daraus vielleicht etwas für sich mitnehmen können. Manche Erlebnisse klingen so absurd, dass man sie sich schlicht nicht ausdenken kann.
Anlass dieses Beitrags sind Kennzahlen – jedoch nicht die klassischen betriebswirtschaftlichen Größen wie Umsatz, EBIT oder Kapitalbindung. Diese sind in verantwortungsvollen Unternehmenspositionen bekannt und werden selten infrage gestellt. Heute soll es um etwas Tieferliegendes gehen: den Umgang mit produktionsnahen Daten und die oft erstaunlichen Reaktionen, wenn diese unbequeme Wahrheiten ans Licht bringen.
Blindflug in der Fertigung
In vielen Unternehmen dominieren betriebswirtschaftliche Kennzahlen das Führungsverständnis. Wenn Zahlen stagnieren oder sich verschlechtern, folgt oft die reflexartige Reaktion: Personalabbau, Investitionsstopp, Budgetkürzungen – also Maßnahmen an der Oberfläche.
Selten jedoch wird die Frage gestellt: Warum verschlechtern sich die Zahlen eigentlich, was ist die Ursache? Oder auch: Wie können wir auf veränderte Marktsituationen angemessen und vor allem weitsichtig reagieren? Eine fundierte Analyse der Wertschöpfungskette, also der tatsächlichen Prozesse in der Fertigung, bleibt häufig aus. Und genau dort liegen in produzierenden Unternehmen die entscheidenden Hebel.
Doch bevor man analysieren kann, braucht es belastbare Daten. Hier zeigt sich ein zentrales Problem: Viele Unternehmen sind in puncto Produktionskennzahlen sehr schlecht aufgestellt. Die Daten fehlen, weil sie bewusst nicht erhoben oder als „operativer Ballast“ abgetan werden. Die Geschäftsführung verlässt sich lieber auf vertraute Reportings und kommt zu Schlussfolgerungen, die mit der Realität nichts zu tun haben. Erst wenn externer Druck oder eine spürbare Krise entsteht, wird nachgesteuert – oft zu spät oder nur halbherzig.
Dabei könnten Kennzahlen wie Ausschussquoten, Nacharbeitszeiten, Rüstzeiten, OEE oder Materialdurchlaufzeiten frühzeitig auf Fehlentwicklungen hinweisen. –> Wenn man bereit ist, hinzusehen und zu akzeptieren, dass es auf ein Problem durchaus auch andere Blickwinkel geben kann, die oft sogar sehr effiziente Lösungen bieten.
Wenn Erkenntnis Angst macht
Ist es gelungen, diese Kennzahlen zu etablieren, beginnt oft das eigentliche Drama: Die neuen Erkenntnisse werden nicht als Chance, sondern als Bedrohung empfunden. Statt Ursachenforschung folgt das Infragestellen von Datenbasis und Aussagekraft – teils durch Einholung einer zweiten, wohlgesinnten Beratermeinung, um die unerwünschte Wahrheit zu relativieren. Nach dem Motto: Was nicht sein darf, kann nicht sein.
Ich habe erlebt, wie ein Geschäftsführer – gestützt auf einen langjährigen Vertrauten – lieber abwartete und relativierte, als die glasklare Kausalität zwischen Prozessschwächen und wirtschaftlichen Verwerfungen anzuerkennen. Dass ein externer und erfahrener Interim Manager schneller Lösungen identifiziert als ein langjähriger Mitstreiter und Vertrauter, ist offenbar schwer auszuhalten. Die Folge: Verunsicherung, Verzögerung, Vermeidung – in der Hoffnung, dass sich noch eine alternative Erklärung findet. Die gab es aber nicht.
Analysen sind mehr als Excel-Akrobatik
Leider basiert in manchen Unternehmen sogar ein sogenanntes Sanierungskonzept auf reflexartigen Maßnahmen statt auf fundierten Analysen. Dabei genügt es eben nicht, eine Excel-Tabelle so zu modellieren, dass sie ein “schönes Bild” ergibt. Ein Kollege brachte es einmal treffend auf den Punkt:
„You can always paint a nice picture.“
Man kann Personal so lange aus der Kalkulation streichen, bis die Kosten unter den Umsatz fallen. Die Tabelle sieht dann sicher auch sehr schön aus. Ob die Organisation danach noch liefern kann, sieht man in der Tabelle nicht. Man kann so etwas auch leidenschaftlich präsentieren, bis man von der Wahrheit eingeholt wird.
Personalabbau: Headcount reduzieren ist keine Strategie
In der Praxis gibt es grobe Erfahrungswerte zum effizienten Personaleinsatz – aber entscheidend ist nicht die Zahl der Köpfe, sondern wer geht und wie die Organisation danach funktioniert.
Beispiel: Der Abbau von 30 % im administrativen Bereich kann unter Umständen weniger Impact auf den Output haben als 10 % Verlust bei der Instandhaltung, Einrichtern oder gar Maschinenbedienern. Spätestens ab einem geplanten Personalabbau >20 % reicht Umverteilung nicht mehr aus – hier muss ein striktes Re-Engineering greifen: Prozesse, Rollen und Strukturen müssen grundlegend neu gedacht werden.
Ein solcher Umbau braucht Erfahrung, Strategie und Systemverständnis – kein „Mal eben“-Ansatz aus einem Managementbuch oder Pseudo-Erfahrung, die auf dem frisieren einer Excel Tabelle basiert. Viele dieser selbsternannten Strategen sitzen vor einer Auswertung mit Kennzahlen aus der Produktion wie früher vor einem Test-Bild im Fernsehen (die älteren unter uns kennen das noch). Klingt polemisch, ist allerdings ein trauriger Tatsachenbericht.
Danny, wir müssen über die Ergebnisse reden: Ich verstehe es nicht. Wir sind so viel besser geworden, trotzdem wir keine signifikanten Personalmaßnahmen umgesetzt haben.
Zugegeben: es handelt sich um einen speziellen Fall, aber in meinem Business ist jeder Fall speziell. Auf vorgefundene Situationen mit einem allgemeinen Konzept zu reagieren ist so falsch, wie es nur sein sein kann. Der Einzelfall entscheidet über die Maßnahmen.
Wenn Führung sich der Realität verweigert
Was passiert, wenn der Fokus einseitig auf Personalabbau liegt und operative Erkenntnisse ignoriert werden?
Verpasste Effizienzpotenziale: Unentdeckte Schwachstellen im Shopfloor kosten täglich bares Geld.
Demotivation der Führungskräfte: Wer engagiert Verbesserungsvorschläge liefert und auf taube Ohren stößt, verliert Energie und Vertrauen.
Verlust an Glaubwürdigkeit: Probleme, die offensichtlich sind und dennoch ignoriert werden, untergraben jede Führungsautorität.
(emotionale) Abhängigkeit von befreundeten Beratern: Statt interne Kompetenz zu stärken, wird nach Bestätigung der eigenen Sichtweise gesucht – teuer und selten zielführend.
Organisatorische Lähmung: Wenn Entscheidungen vertagt werden, entsteht Stillstand – der gefährlichste Zustand in jeder Krise.
Krisen brauchen Kompetenz, nicht Komfortzonen
In Krisensituationen auf Freunde zu setzen, ist menschlich verständlich. Sie bieten Rückhalt und Sicherheit – aber auch den Hang zur Bestätigung und Harmonisierung. Freunde sind selten radikale Wahrheitssucher. Doch genau das braucht es in kritischen Phasen: Klarheit, Ehrlichkeit und Expertise – nicht emotionale Schonung.
Ein professioneller, externer Blick – sachlich, neutral und lösungsorientiert – ist oft der entscheidende Unterschied zwischen Schadensbegrenzung und echter Erneuerung.
Fazit
Vertrautheit ist kein Ersatz für Kompetenz. Und Freundschaft kein Konzept zur Krisenbewältigung.
Wer Verantwortung trägt, braucht in kritischen Situationen keine Ja-Sager, sondern Mitdenker mit unternehmerischem Verstand. Interim Management liefert genau das: einen objektiven Blick von außen, fundierte Analysen und praktikable Umsetzung – auch (und gerade dann), wenn die Wahrheit unbequem ist.
